Editorial

Liebe Leser:innen,

häufig beginnen wir das rundschreiben an Orten wie Ramallah, Kapstadt, Kobanê, Karatschi oder Santiago de Chile. Dieses Mal beginnen wir in Unterlüß. Unterlüß liegt in der Lüneburger Heide und hat knapp 4.000 Einwohner:innen. Heute, am 12. Februar, dem Tag des Redaktionsschlusses, beginnt dort offiziell der Bau einer Munitionsfabrik des deutschen Rüstungsgiganten Rheinmetall. In Rekordzeit will dieser hier eine Fabrik hochziehen, schon ab 2025 sollen in Unterlüß jährlich bis zu 200.000 Geschosse, beispielsweise für Panzerhaubitzen, produziert werden. Zum Spatenstich durfte auch der Kanzler nicht fehlen, dessen Besuch zugleich eine politische Botschaft war. „Hier wird Scholz zum Panzer-Kanzler“ titelt beispielsweise die Bild-Zeitung. „Die Welt bestellt gerade Führung bei ihm“, schreibt sie weiter und fragt, ob er „als Einwechsel-Führer für Europa“ bereitstünde. Es ist nicht die Schuld des deutschen Regierungschefs, dass Deutschlands größte Zeitung ihn als „Einwechsel-Führer“ ins Spiel bringt. Aber es kommt darin etwas zum Ausdruck über die Stimmung im Land: Während die politische Elite sich regelmäßig Bestnoten dafür erteilt, „Lehren aus der Geschichte“ gezogen zu haben, schöpft sie daraus zugleich das Selbstbewusstsein, mit dem deutsche „Führung“ und sogar ein deutscher „Führer“ sprechbar werden: im Namen eines militaristisch gewendeten „Nie wieder“.

Diesen Verhältnissen, die in zwei Jahren Ukraine-Krieg verrückt wurden, widmen wir dieses Heft. Das sich entfaltende Kriegsregime sieht militärische Lösungen für politische Probleme vor. Wie sich darin das Eingeständnis deutscher Schuld in moralisch aufgeladene Kriegsbereitschaft wandelt, fragt sich Katja Maurer im Leitartikel und fragen wir den amerikanischen Historiker Michael Rothberg im Interview. In unserem ersten Schwerpunkt schauen wir außerdem auf die Ausbreitung des westlichen Kriegsregimes und die Art, wie dieses von Südafrika und dem Völkerrecht in Den Haag auf die Probe gestellt wird. Mehr dazu im Artikel von Usche Merk, die zugleich kenntnisreich erklärt, welche Genealogie der südafrikanischen Intervention zugrunde liegt. Außerdem berichtet Ramona Lenz aus Israel, von den Realitäten nach dem 7. Oktober.

Während in Deutschland Waffenfabriken gebaut sowie Verteidigungsetats und Sondervermögen erhöht werden, hat die Bundesregierung in ihrem neuen Haushalt den Entwicklungsetat und die humanitäre Hilfe zusammengekürzt. Den Eindruck der Bild-Zeitung, dass es einen globalen Ruf nach „deutscher Führung“ gäbe, können wir – man muss wohl sagen: glücklicherweise – nicht bestätigen. Er entspricht keinesfalls dem, was unsere Partner:innen auf der ganzen Welt uns berichten. Vielmehr kommentieren sie in einer Mischung aus Wut und Entsetzen die Rolle der Bundesrepublik beim Krieg in Gaza. Im zweiten Schwerpunkt des Heftes schauen wir – neben der Erdbebenregion in Syrien und der Türkei – eben dorthin. Die Schilderungen von Chris Whitman und Riad Othman über das Ausmaß der Katastrophe und die Gewalt in Gaza, der auch unsere Partner:innen ausgesetzt sind, sind nur schwer zu ertragen. Sie werfen Fragen für die Debatte hierzulande auf.

Es gibt aber auch gute Nachrichten aus Deutschland: Plötzlich gingen und gehen Hunderttausende auf die Straße. Die Demos, auf denen wir auch zahlreiche unserer Leser:innen vermuten, sind ein echter Hoffnungsschimmer für uns alle. Nicht nur hinsichtlich des nötigen Kampfes gegen den aufkommenden Faschismus, sondern auch dafür, die Verhältnisse hierzulande wieder etwas geradezurücken. Darüber sprachen wir für dieses Heft mit der Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev. Und vielleicht kommt der „Frühling der Freiheit“ ja doch noch, von dem der kürzlich verstorbene italienische Philosoph und Aktivist Toni Negri in seiner Autobiografie, die zugleich ein Vermächtnis ist, spricht und den wir auf der Rückseite des Heftes zitieren.

Mario Neumann

Veröffentlicht am 15. Februar 2024

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